Vergessene Halle
Die Ziehharmonika-Kaufhalle als Überbleibsel genialer Ingenieurskunst
Schwerin • Auf dem Gelände des ehemaligen KIW „Vorwärts“ am Mittelweg fristet eine verlassene Raumerweiterungshalle ihr Dasein. Einst als Ziehharmonika-Kaufhalle bekannt, gilt das Objekt als Überbleibsel genialer Ingenieurskunst. Das ZGM sucht nach der Geschichte dahinter.
Die Raumerweiterungshalle, kurz REH, ist von dichtem Gestrüpp überwuchert, Birken haben sich durch die Wände gebohrt und der Fußboden ist von Sperrmüll übersät. Grünspan hat sich auf der Aluminiumhülle breit gemacht. Der Winter holt den Anblick auf dem Industriegelände ans Tageslicht, bevor sattes Frühlingsgrün das Relikt wieder verschwinden lässt. Dass es sich bei diesem Objekt um ein besonderes Stück DDR-Architekturgeschichte handelt, weiß kaum jemand. Das ZGM will nun herausfinden, was es mit dieser Halle auf dem Vorwärtsgelände auf sich hat.
Handelt es sich bei diesem Fund um die „Ziehharmonika-Kaufhalle“, wie sie auch im Volksmund genannt wurde, die 1990 noch in der Gerhard-Hauptmann-Straße/ Dr. Külz-Straße stand? Wurde sie umgesetzt, oder hat das Kraftfahrzeuginstandsetzungswerk am Mittelweg schon in den 1970er-Jahren diese Halle für andere Zwecke erworben – vielleicht als Mensa, Teilelager oder Büro? In Schwerin soll es kurz nach der Wende mindestens drei dieser Raumerweiterungshallen (REH) aus der Boizenburger Stahlbauschmiede gegeben haben. „Wir wollen der Geschichte dieses Objektes auf den Grund gehen und suchen nun Zeitzeugen“, sagt ZGM-Werkleiter Kristian Meier-Hedrich. „Ob die Halle in diesem Zustand noch zu retten ist, bleibt leider fraglich.“
Eine Erfindung mit Weitblick
Ein Ingenieur aus Boizenburg, Helmut Both, entwickelte das Konzept mit dem Ziel, eine Halle zu schaffen, die je nach Bedarf an verschiedenen Standorten in unterschiedlichen Größen genutzt werden konnte. Sie sollte relativ leicht, fundamentlos aufbaubar sein und später wieder versetzt werden können. Der Clou war: Per Flaschenzug und Drehkurbel konnten die acht Hallenelemente mit sechs Arbeitern innerhalb eines Tages auf- und wieder abgebaut werden. So fand die 1959 auf der Leipziger Messe goldprämierte „Ziehharmonika- Halle“ in der DDR zahlreiche Verwendungen. Sie diente als Unterkunft für Arbeiter, Kaufhalle, Eisdiele, Postamt, Gaststätte und Sekundärrohstoff (SERO)-Annahmestelle. Auch als Kino auf Zeltplätzen oder Versammlungsraum in Betrieben kam sie zum Einsatz. In der Bundesrepublik war sie vor allem als Intershop-Verkaufsraum an Transitautobahnen bekannt.
Ursprünglich wurden die Außenwände der Hallen aus Aluminium gefertigt. Nach einem Verbot der Aluminiumverwendung 1979 wurde auf Wellblech umgestellt. Bis 1989 entstanden so im Stahlwerk an der Elbe laut Produktionsbericht 3.400 REH. Nach der Wende wurden viele Hallen entsorgt, in die Sowjetunion, den Irak oder nach Ungarn verkauft. In Schwerin sollen 1990 noch drei REH gestanden haben – in der Schelfstadt und in der Paulsstadt als mobile Kaufhallen und auf einem Betriebsgelände am Mueßer Berg. Dort nutzten eine Versicherung und ein Baumaschinenverleih die REH nach der Wende als Büro. Deutschlandweit gibt es nur noch wenige Hallen. In Berlin-Prenzlauer Berg nutzt eine Handwerksfirma eine renovierte REH als Werkstatt für Möbel aus alten Holzmaterialien. In Leipzig steht eine REH aus dem Jahr 1975. Sie fungierte als Mensa der FDJ-Jugendhochschule am Bogensee und wird derzeit zum „Café Boizenburg“ umgestaltet. In Pirna zog eine Reinigung in eine REH, während ein weiteres Exemplar im Deutschen Landwirtschaftsmuseum Schloss Blankenhain erhalten geblieben ist. In Cossebaude bei Dresden dient eine dieser Hallen heute als Trabi-Werkstatt. Im Internet wird eine komplette funktionstüchtige Halle für immerhin 38.000 Euro angeboten. Doch die REH verschwindet immer mehr aus der Öffentlichkeit, obwohl die Nachfrage nach einer solchen Lösung wieder enorm gestiegen ist.
Konstruktion und Aufbau
Bis zu acht Module lassen sich je nach Platzbedarf ausziehen. Im vollständig ausgefahrenen Zustand ist die Halle fast 16 Meter lang und bietet eine Fläche von 126 Quadratmetern. Die Raumhöhe verringert sich von Abschnitt zu Abschnitt, bleibt aber ausreichend auch für große Personen. Die Hülle besteht aus Aluminiumblech, das von Stahlträgern gestützt wird. Die Innenwände sind mit Sprelacartoder Hozfaserplatten verkleidet. Die abgerundeten Ecken erinnern an das Design von Wohnwagen oder Raumkapseln aus Science-Fiction-Filmen. Die Vorderseite verfügt über eine Eingangstür und zwei Fenster, weitere Fenster an den Seiten sorgen für zusätzliches Licht. Doch wer kennt die Geschichte hinter der REH am Mittelweg in Schwerin? „Immer wieder treffen wir bei den Sanierungen in Schulen oder bei der Verwaltung von Industriegebäuden auf solche interessanten Fundstücke“, sagt Kristian Meier-Hedrich. Er will nun mit seinem Team herausfinden, was es mit der Raumerweiterungshalle auf dem KIW „Vorwärts“-Gelände auf sich hatte. Wer also Zeitzeugen kennt oder Hinweise dazu hat, ist gern eingeladen zu berichten. Die Redaktion der hauspost freut sich auf Zuschriften per Mail an redaktion@hauspost.de.
maxpress/Holger Herrmann
